Die Theorie der römischen Stundenzählung wurde entwickelt, um den scheinbaren Widerspruch zwischen der „6. Stunde“ (Joh 19,14) und der „3. Stunde“ (Mk 15,25) für die Tageszeit der Kreuzigung auszugleichen.
Die Vertreter dieser Ansicht gehen davon aus, dass die Römer damals ihre Stunden von Mitternacht an zählten und nicht vom Sonnenaufgang wie es alle Völker im alten Orient getan haben. Dann wäre die Verhandlung vor Pilatus in der „6. Stunde“ (Joh 19,14) schon um 6 Uhr früh abgeschlossen gewesen und erst drei Stunden später hing Jesus am Kreuz, also gegen 9 Uhr.
Gegen diesen Vorschlag gibt es folgende Einwände:
1. Man muss ein biblisches Problem durch eine zeitgeschichtliche Annahme erklären. Wenn die Grundannahme aber falsch ist, sind wahrscheinlich auch alle Folgerungen daraus falsch.
2. Man muss weiterhin annehmen, dass Johannes entgegen allen anderen Zeitangaben im NT die postulierte römische Stundenzählung übernommen hat, ohne das irgendwo anzumerken, obwohl er doch die anderen Evangelien kannte.
3. Es ist historisch nicht nachweisbar, dass die Römer während der irdischen Lebenszeit unseres Herrn die Stunden ihres Tages tatsächlich von Mitternacht an zählten wie wir das heute tun. Die Römer hatten zwar die Mitternacht für den Tagesbeginn und dessen Ende festgesetzt, das hatte aber keinerlei Bedeutung für die Stundenzählung, sondern nur,
a) wenn für einen Tag eine bestimmte Zahl von Opfern vorgeschrieben war;
b) wenn innerhalb eines Tages eine „Vogelschau“ vorgenommen wurde (Auspizien);
c) wenn sich Volkstribunen nur für einen Tag aus Rom entfernen durften;
d) wann der Tag begann, an dem Sklaven freigelassen werden mussten usw.
4. Man muss alle anderen Zeitangaben im Johannesevangelium mit dieser Stundenzählung erklären. Das könnte passen in Joh 1,39, wo zwei Johannesjünger in der 10. Stunde zu Jesus kommen, dann wäre das vormittags um 10 Uhr gewesen. Weniger gut passt es Joh 11,9-10, wo Jesus davon spricht, dass der Tag 12 Stunden hat und man eigentlich nur am Tag unterwegs ist. Nach „römischer Zeit“ hätte Jesus sich dann laut Joh 4,6 nach einer Nachtwanderung morgens um 6 Uhr müde an den Jakobsbrunnen gesetzt.
5. Weil einige diese befremdende Sicht von Joh 4,6 vermeiden wollen, postulieren sie eine zweite Eigenart der „römischen Stundezählung: Die Römer hätten die Stunden nicht nur von Mitternacht bis Mittag, sondern nach dem Mittag wieder von eins an bis Mitternacht gezählt. (Das ist aber durch nichts bewiesen, im Gegenteil: eine aufgefundene römische Sonnenuhr, die mit Ziffern versehen war, zählt die Tagesstunden von Sonnenaufgang bis -untergang von 1 bis 12 wie damals überall üblich.) Nach dieser Lehre wäre Jesus abends 6 Uhr am Jakobsbrunnen angekommen.
6. Wenn die Gerichtsverhandlungen gegen Jesus schon um 6 Uhr morgens abgeschlossen gewesen wären, dann wäre zwischen der letzten Beratung des Hohen Rates gegen Jesus, die nach Mt 27,1, Mk 15,1 und Lk 22,66 am frühen Morgen begann, und dem abschließenden Urteilsspruch des Pilatus um sechs Uhr vielleicht nur eine halbe Stunde Zeit gewesen. Denn in der Passazeit bricht der Morgen nicht vor 5.30 Uhr an. In dieser extrem kurzen Zeit müssen aber fünf weitere Ereignisse stattgefunden haben.
a) das Verhör durch Pilatus,
b) die Befragung durch Herodes, zu dem Jesus hingebracht werden musste,
c) die erneute Verhandlung vor Pilatus, zu dem die Hohen Priester und das Volk erst wieder zusammengerufen werden musste,
d) die Geißelung des Herrn und die Belustigung der Soldaten
e) die letzte Verhandlung mit der Warnung durch Pilatus Frau und seinem Händewaschen
Erst dann kam es zu dem abschließenden Urteilsspruch durch Pilatus von Joh 19,14-16. Es ist praktisch unmöglich, dass das alles in einer so kurzen Zeit zwischen der Morgendämmerung und der 6. Stunde geschehen sein kann.
7. Weil einige Vertreter der postulierten „römischen Stundenzählung“ dieses Problem erkannt haben, behaupten sie, dass der Morgen in Mt 27,1 und Mk 15,1 nicht den Tagesanbruch meint, sondern die vierte dreistündige Nachwache, die ebenfalls „Morgen“ genannt wurde. Dabei übersehen sie, dass es am frühen Morgen eine zweite offizielle Verhandlung gab. Was in der Nacht geschah, war ja nach jüdischem Recht illegal. Alle drei Synoptiker berichten von dieser offiziellen Verhandlung bei Tagesanbruch. Mt 27,1-2 und Mk 15,1 berichten nur von dem neuen Zusammentreten des Hohen Rates und der Übergabe des Herrn an Pilatus. Lukas 22,66 - 23,2 betont am stärksten den offiziellen Charakter dieser zweiten Versammlung und berichtet zusätzlich etwas vom inhaltlichen Geschehen und die ganz neuen Anklagepunkte. Den Zeitpunkt nennt Lukas: "als es Tag wurde". Damit kann also auch nicht die vierte Nachtwache gemeint sein.
Fazit
Diese Theorie sollte aufgegeben werden, denn sie geht
- von einer behaupteten römischen Stundenzählung aus, für die es keinen Beweis gibt und die im damaligen Alltag nirgends praktiziert wurde.
- Setzt diese Theorie ein Stundenverständnis voraus wie es heute üblich ist, das es in der Antike aber nicht gab.
- Die Theorie kann nicht mit den Angaben im Neuen Testament zu den Gerichtsverhandlungen gegen Jesus Christus harmonisiert werden.
Als Alternative siehe den Aufsatz Tageszeiten in der Bibel – Uhrzeiten heute.Tageszeiten in der Bibel – Uhrzeiten heute.
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