Auch wenn man zwei wortgenaue Übersetzungen nebeneinanderlegt, stellt man Unterschiede im Wortgebrauch fest. Das liegt einerseits an dem Maß, das der Übersetzer einem guten Deutsch beilegt ...
... andererseits aber auch an der Möglichkeit, für das gleiche Wort in der Grundsprache verschiedene deutsche Worte zu wählen. Schauen wir uns das an einem Beispiel an:
1. Die Seligpreisung des Bibellesens
Offb 1,3: Glückselig, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und bewahren, was in ihr geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe! (UELB)
Zum Vergleich eine sinngenaue Übersetzung:
Offb 1,3: Glücklich ist, wer diese prophetischen Worte liest, und alle, die sie hören und danach handeln. Denn schon bald wird sich alles erfüllen. (NeÜ)
Zur Situation: Die angesprochenen Gemeinden hatten je nur eine Abschrift der Offenbarung. Daraus wurde der Gemeinde vorgelesen. Deswegen werden die jeweiligen Leser und alle willigen Hörer glücklich gepriesen, wenn sie das Geschriebene „bewahren“.
Was aber bedeutet das griechische Wort tereô „bewahren“? Das Wörterbuch macht folgende Vorschläge:
- sorgfältig auf Personen, Dinge oder Zustände achtgeben: jemand oder etwas bewachen, verwahren; auf etwas oder jemand aufpassen; übertragen: etwas bewahren (nicht verlieren), etwas in einem gegebenen Zustand unversehrt erhalten, etwas festhalten.
- be(ob)achten – vom Gesetz bzw. den Geboten: (sich an etwas) halten; etwas beachten, beobachten, erfüllen, tun; auf etwas achten.
- jemanden vor etwas oder vor jemandem beschützen (z.B. vor Bösem, Unheil, Angriffen usw.).
- etwas reservieren; oder: etwas aufrechterhalten
Der Übersetzer muss sich also für eine der genannten Möglichkeit entscheiden. Dabei darf er nicht willkürlich handeln, er darf sich nicht an Vorurteilen, dogmatischen oder gar bibelkritischen Voreinstellungen orientieren, sondern allein am Zusammenhang in dem zu übersetzenden Text.
Es ist immer der Zusammenhang, der die Bedeutung eines Wortes festlegt. So kann das Wort „Welt“ im Neuen Testament die Bedeutung von Schöpfung haben, es kann die Menschen meinen, die keine Beziehung zu Gott haben, es kann ein System meinen, das die Gedanken, Worte und Taten der Gläubigen gerade nicht bestimmen soll.
Jedes Wörterbuch entsteht dadurch, dass ein bestimmtes Wort in allen vorkommenden Zusammenhängen untersucht wird. Aus allen Zusammenhängen kann der Autor des Wörterbuches eine allgemeine Bedeutung formulieren, wie im obigen Beispiel „bewahren“. Was das Wort aber im konkreten Fall von Offenbarung 1 bedeutet, kann nur aus dem Zusammenhang dort gewonnen werden. Gewiss sollten die Leser und Hörer den Text nicht für sich reservieren oder ihn bewachen, damit niemand ihn stiehlt, ihn beschützen, damit keiner ihn verdirbt. Obwohl all die genannten Bedeutungen in einer gewissen Hinsicht mitschwingen, ist die Hauptbedeutung in diesem Zusammenhang, dass die Leser das Wort beachten und danach tun oder handeln sollen. Das ist zwar enger gefasst, aber wesentlich verständlicher.
Erkenntnis 9: Was ein Begriff in der jeweiligen Sprache konkret bedeutet, geht immer aus dem Zusammenhang hervor, in dem er verwendet wird.
Als Hieronymus 382 n.Chr. begann, die mehr als 40 verschiedenen lateinischen Bibelübersetzungen zu korrigieren, die seit fast 200 Jahren im Umlauf waren, ging er wie diese immer vom griechischen Text aus – auch beim Alten Testament. Doch als er die Psalmen und einige andere Bücher schon fertig bearbeitet hatte, entschied er sich, die Texte des Alten Testaments doch besser direkt aus dem Hebräischen zu übersetzen.
Übersetzungen aus einer Übersetzung sind deshalb problematisch, weil sie den Text noch weiter verbreitern und auf diese Weise noch stärker vom Grundtext abweichen können, als die Ausgangsübersetzung.
Andererseits orientiert sich jeder, der eine Bibel neu aus den Grundsprachen übersetzt, immer auch an den vorhandenen Übersetzungen im Umfeld seiner Zielsprache.
Im Beispiel der Guajajara Bibel haben sich die Übersetzer aus praktischen Gründen entschieden, eine verständliche portugiesische Bibelübersetzung zugrunde zu legen, um den Christen in einer kleinen Volksgruppe eine Gemeinschaft mit den Portugiesisch sprechenden Christen ihres Landes zu ermöglichen.
Ein weiteres Beispiel ist die Neues Leben Bibel, eine deutschsprachige Ausgabe der englischen New Living Translation. Die Übersetzer orientierten sich aber nicht nur an dieser, sondern vor allem an den Grundtexten der Bibel, was die vielen Anmerkungen beweisen.
Ein nicht so positives Beispiel ist die sogenannte „Volxbibel“, die gar nicht erst den Anspruch erhebt, sich am Grundtext zu orientieren, und zugibt, es mit der Genauigkeit nicht so genau zu nehmen.
Klares Negativbeispiel ist die Bibel der Zeugen Jehovas (Neue-Welt-Übersetzung), die nach der revidierten englischen Ausgabe von 1984 ins Deutsche ebenso wie in 62 andere Sprachen übersetzt wurde. Sie behauptet zwar, dass dies „unter getreuer Berücksichtigung der hebräischen, aramäischen und griechischen Ursprache“ geschehen wäre, wobei nicht einmal die englische Version einer ernsthaften Überprüfung standhält und die anderen schon gar nicht.
Erkenntnis 10: Eine andere Übersetzung kann durchaus als Hilfsmittel verwendet werden. Der Übersetzer muss sich aber immer am Grundtext orientieren.
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